Der Bedarf an geriatrischer Rehabilitation steigt drastisch an - doch die Kliniken stecken in der Krise

Experte erläutert die Gründe für die problematische Lage

München/Wartenberg - Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat vor wenigen Tagen einen überraschend starken Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis zum Jahr 2023 verkündet. Statt der erwarteten Zunahme um 50.000 werden es 360.000 Betroffene sein. Die Zahlen verdeutlichen den fortschreitenden demografischen Wandel in Deutschland. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist in Deutschland heute jeder Zweite älter als 45 Jahre und jeder Fünfte älter als 66 Jahre. Eine besonders stark wachsende Gruppe älterer Menschen sind die Hochbetagten ab 85 Jahren. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Altersmedizin zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig sind jedoch viele geriatrische Kliniken - vor allem Reha-Kliniken - von der Schließung bedroht oder haben bereits das Handtuch geworfen. Dr. med. Klaus Friedrich Becher, Chefarzt für Allgemeine und Geriatrische Rehabilitation, Innere Medizin und Geriatrie an der Klinik Wartenberg, der größten Einrichtung für stationäre geriatrische Rehabilitation in Bayern, erläutert die Gründe für die kritische Situation.

Die privat getragene Klinik Wartenberg, rund 60 km nordöstlich von München, ist auf die Behandlung hochbetagter, multimorbider Menschen spezialisiert. Sie verfügt über 135 Betten für die geriatrische Rehabilitation, 40 Betten für die Akutgeriatrie, 12 Palliativplätze sowie eine Mobile Geriatrische Rehabilitation (MoGeRe). „Der Bedarf nach geriatrischen Versorgungsangeboten in der Bevölkerung steigt. Schon jetzt gibt es vielerorts Wartezeiten für die Anschlussheilbehandlung nach einem Krankenhausaufenthalt. Gleichzeitig sind die gegebenen Kapazitäten rückläufig. Allein in den vergangenen zwei Jahren haben mehrere Reha-Geriatrien in Bayern ihren Betrieb eingestellt, darunter Einrichtungen in Berchtesgaden, im Bayerischen Wald oder in Würzburg“, berichtet Klaus Friedrich Becher. Viele weitere Schließungen seien im Stillen erfolgt, weiß er. „Teilweise werden die Abteilungen gar nicht offiziell abgemeldet. Damit halten sich die Träger die Option zur Wiedereröffnung - ohne den ganzen bürokratischen Aufwand einer Neubeantragung - offen. Diese Zahlen tauchen dann natürlich nicht in der Statistik auf. Aber die Dunkelziffer ist hoch“, ist er überzeugt und mahnt: „Diesen Trend müssen wir aufhalten.“ Die Ursachen für die schwierige Lage seien vielfältig. 

Problem Unterfinanzierung
„Eine davon ist die chronische Unterfinanzierung. Da sind zum einen die deutlich gestiegenen, aber nicht gedeckten Personalkosten.“ Angaben des Bundesverbandes Geriatrie zufolge konnten rund zwei Drittel aller deutschen Reha-Einrichtungen in den vergangenen eineinhalb Jahren in den Verhandlungen mit den Krankenkassen keine Erhöhung ihrer Vergütungssätze durchsetzen. „Die aktuell vereinbarten Tagessätze liegen im Durchschnitt 25 bis 45 Euro unter dem tatsächlichen Bedarf – wohlgemerkt pro Tag und pro Person. Allein dadurch bauen sich stetig Negativergebnisse auf.“ Hinzu kämen die stark gestiegenen Energie-, Material- und Sachkosten, wie IT-Infrastruktur-Aufbau, deren Ausbau, die kontinuierliche Sicherung gegen Cybercrime sowie die nicht refinanzierten Investitionskosten. Mit Letzteren würden die Häuser „völlig allein gelassen.“ Bechers Appell: „Wir brauchen endlich eine Kostendeckung und außerdem einen vernünftigen Investitionskostenzuschlag.“ Zwar habe 2023 in Würzburg ein Runder Tisch Geriatrie mit dem bayerischen Gesundheitsministerium stattgefunden, dieser sei aber weitgehend ergebnislos geblieben.

Problem Personalmangel
Als zweites massives Problem nennt Klaus Friedrich Becher den Personalmangel. „Die geriatrische Rehabilitation ist ein Spezialgebiet. Wir behandeln multimorbide, hochbetagte Menschen. Die Patienten in unserem Haus sind durchschnittlich 82 Jahre alt und nehmen im Schnitt 7 Medikamente pro Tag ein. Sie sind meist funktionell beeinträchtigt, sei es in der Beweglichkeit, der Sprache, durch Inkontinenz oder Hör- und Seheinschränkungen, und somit sehr betreuungsintensiv. Das Pflegepersonal muss im Umgang mit diesen Patienten besonders geschult sein. Leider ist es sehr schwierig, solches Personal zu finden.“ In der geriatrischen Rehabilitation sei ein spezifischer Personalschlüssel geplant, der zwar in puncto Qualität zu befürworten sei, aber gegen den leer gefegten Arbeitsmarkt keine Abhilfe schaffen werde. Der Vorschlag des Bundesausschusses für Rehabilitation, auf die gesamte Einrichtung bezogene Personalkorridore festzulegen, sei in seinen Augen ein Schritt in die richtige Richtung. „Längst überfällig“ sei es zudem, die Reha für die generalistische Pflegeausbildung zu öffnen. Und weiter: „Wenn wir die Bevölkerungsentwicklung weiter mit guter Behandlungsqualität begleiten wollen, müssen wir außerdem Wissenschaft und Forschung in diesem Gebiet deutlich stärken, zum einen durch die Schaffung von Lehrstühlen für Altersmedizin - bislang gibt es einen solchen nur am Institut für Biomedizin des Alterns an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg - und zum anderen, indem die Geriatrie ein eigenes Schwerpunktfach im Gebiet der Inneren Medizin wird.“

Problem Demografischer Wandel
Weiterhin und damit drittens, werde der demografische Wandel in den kommenden Jahren bis 2050 die Situation der Versorgung älterer multimorbider Menschen noch verschärfen. „Bei mehr als einem Drittel der Bevölkerung, in manchen
besonders ländlichen Regionen noch mehr, wird der Bedarf nach dem Prinzip `Reha vor Pflege´ deutlich steigen.“ Die geriatrische Rehabilitation sichere die adäquate Versorgung einer stetig wachsenden Bevölkerungsschicht und spiele zudem eine wichtige Rolle bei der Verhinderung oder Verminderung von Pflegebedürftigkeit, betont Klaus Friedrich Becher. „Wir müssen die wohnortnahen Angebote zur mobilen, ambulanten, teilstationären und stationären Rehabilitation flächendeckend erhalten oder, besser noch, ausbauen. Dies gelingt nur durch gemeinsame Anstrengungen aller Akteure.“